Es verlangt Mut von betroffenen Frauen, den Schritt aus der häuslichen Gewaltspirale zu wagen. 

Niemand muss Gewalt aushalten

Seit inzwischen 13 Jahren arbeitet die Sozialpädagogin Katrin Gottardi im Frauenhausdienst in Brixen. Im Interview mit dem „Südtiroler Landwirt“ erklärt sie, wieso keine Frau häusliche Gewalt akzeptieren muss. Sie weiß auch, was ein ­gewalttätiges Familienumfeld mit den Kindern macht.

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Leben

Das Frauenhaus in Brixen bietet acht Frauen mit ihren Kindern Platz. Jede Wohnung hat eine eigene Küche und ein eigenes Bad. Zusätzlich  gibt es Gemeinschaftsräume. Falls es zusätzlichen Bedarf an Wohnungen gibt, mietet der Dienst sie an. Die Kosten übernimmt das Land. Insgesamt gibt es in Südtirol drei Frauenhäuser, die an 365 Tagen im Jahr einen 24-Stunden-Dienst Beratung und Aufnahme für Frauen in Gewaltsituationen gewährleisten: in Bozen, Brixen und Meran. Zusätzlich gibt es in Bozen und Bruneck ein Haus der geschützten Wohnungen. Wer sich meldet – egal ob direkt oder indirekt betroffen –, bleibt anonym und entscheidet selbst, welche Hilfe sie/er in Anspruch nehmen will. Eine der Ansprechpartnerinnen ist Katrin Gottardi vom Frauenhausdienst in Brixen.

Südtiroler Landwirt: Frau Gottardi, wie viele Frauen haben sich im letzten Jahr in Südtirol wegen häuslicher Gewalt an Beratungsdienste gewandt?
Katrin Gottardi:
Die Statistik für 2024 ist in Ausarbeitung, deshalb liegen die Zahlen noch nicht vor. Was ich bereits jetzt sagen kann, ist, dass sich insgesamt 129 Frauen an den Frauenhausdienst in Brixen gewandt haben. Die Tendenz ist seit Jahren steigend. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass es bei den Frauen inzwischen eine Bewusstseinsänderung gegeben hat, dass sie sich im Klaren darüber sind, dass man Gewalt nicht aushalten muss und es ein Grundrecht jeder Frau ist, in solchen Situationen Hilfe zu suchen. Was ich betonen möchte ist, dass wir nur die Spitze des Eisbergs kennen und dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Deshalb wäre es gewagt zu sagen, dass häusliche Gewalt nicht zugenommen hat. Wir stellen aber fest, dass sich immer mehr einheimische Frauen melden, auch vermehrt aus dem ländlichen Raum. Wir nehmen daher an, dass das effektiv mit einem neuen Verständnis des Themas häusliche Gewalt zusammenhängt.

Das heißt, die Hemmschwelle für Frauen in Gewaltsituationen, sich Hilfe zu suchen, ist nach wie vor sehr hoch?
Ja, die Scham ist nämlich sehr groß. Denn die betroffene Frau lebt in einer ambivalenten Situation: Sie weiß einerseits sehr genau, dass das, was ihr Mann mit ihr macht, falsch ist. Aber andererseits schämt sie sich dafür, dass sie es sich gefallen lässt, dass sie dabei sozusagen „mitmacht“. Deshalb: Jede Frau, die sich bei uns oder einer anderen Beratungsstelle meldet, beweist viel Mut. Sie überschreitet eine hohe Hemmschwelle. Wenn sie uns kontaktiert, hat sie sich schon sehr viele Gedanken gemacht und einen wichtigen Prozess durchlaufen. Manchmal hat sie vielleicht schon mit einer/einem Vertrauten darüber geredet, viele Wenn und Aber im Kopf herumgewälzt. Wenn sie dann aber diesen ersten Schritt macht, dann macht sie den ersten Schritt heraus, öffnet sozusagen die „Haustür“ …

Wenn nun eine Frau diesen ersten Schritt gemacht hat, inwieweit hat sie dann noch die Kontrolle über die Situation und kann selbst entscheiden, ob und wie es dann weitergeht?
Vorausschicken möchte ich als Erstes: Alles, was hier in der Beratungsstelle passiert, basiert auf absoluter Vertraulichkeit. Sich an uns zu wenden, ist nicht gleichzusetzen damit, zur Polizei zu gehen oder eine Anzeige zu erstatten. Und dann ist unser Grundsatz folgender: Eine Frau, die aus einer häuslichen Gewaltsituation kommt, wird durch den Partner bevormundet und ihrer Freiheit beraubt. Er übt Macht auf sie aus. Unsere Haltung ist darum die, der Frau die Macht und Entscheidungsfreiheit über ihr Leben zurückzugeben. Also schauen wir diese Entmündigung zu stoppen. Das heißt, dass wir der Frau nicht sagen, was sie zu tun hat, oder sie zu etwas drängen. Sie soll vielmehr die Macht über ihr Leben zurückbekommen. Also schauen wir gemeinsam, welcher Weg für sie gangbar ist. Sie muss nichts. Wir beraten beispielsweise auch viele Frauen ambulant, die bei ihrem Partner bleiben. Das ist ihre Entscheidung, wir geben der Frau aber Rückmeldung darüber, welche Folgen die erlebte häusliche Gewalt bei ihr und den Kindern hat.
Manchmal kommen Frauen, weil sie von jemandem geschickt worden sind. Sie wissen nicht so recht, ob wir die richtige Anlaufstelle für sie sind. Dann laden wir sie zum Erzählen ein und sie kann ihre Situation schildern: Dadurch können wir ihr dabei helfen, klar zu definieren, was z. B. Gewalt ist in all ihren Facetten. Denn viele Frauen erleben in ihrem Alltag verschiedene Formen von Gewalt, deshalb ist sie für sie leider zur Normalität geworden. Im Beratungsgespräch benennen wir die verschiedenen Gewaltformen und nennen Beispiele. Wenn eine Frau aber kommt und sagt, sie möchte heraus aus ihrer Situation, ist das Prozedere natürlich ein anderes, dann geben wir ihr alle Informationen und die Hilfe, die sie braucht. Also gestaltet sich die Beratung immer individuell verschieden. Und bei Bedarf begleiten wir sie auch, z. B. zur Polizei. 

Sie haben gerade das Thema der Kinder angesprochen, die in einem Umfeld häuslicher Gewalt aufwachsen. Manchmal hört von Frauen in Gewaltsituationen, dass sie wegen der Kinder beim Partner bleiben. Was sagen Sie dazu?
Also, prinzipiell sind Kinder immer zu schützen. Sie sind die vulnerabelste Gruppe der Gesellschaft und brauchen deshalb unsere besondere Aufmerksamkeit und unseren besonderen Schutz. Es ist unsere Aufgabe als Beraterinnen und Berater, der Mama – und ganz explizit wird hier die Mutter angesprochen – aufzuzeigen, was das mit den Kindern macht, wenn sie sehen, wie die Mutter behandelt wird, wenn sie in dieser Spannung aufwachsen, wenn sie Angst haben, geschlagen werden oder durch Worte entwertet und erniedrigt werden. Das muss den Müttern vor Augen geführt werden, damit sie ihre Kinder schützen können.

Werden in einem gewalttätigen Haus denn gewalttätige Männer „erzogen“?
Das kann man so nicht sagen. Es geht beides: Es stimmt, Kinder lernen zu Hause Verhaltensweisen durch das Vorbild, das sie erleben. Und es kann sein, dass ein Bub später als erwachsener Mann in einer Krisensituation auf dieses Verhalten zurückgreift. Aber es kann genauso gut sein, dass er dieses Modell aus diesem Grund ablehnt. Ein Mädchen kann in einem gewalttätigen Haus erfahren, dass eine Frau erniedrigt, geschlagen und übergriffig behandelt werden darf. Jede Frau lehnt solche Verhalten ab. Wie sich diese Erfahrung auswirkt, hängt aber stark vom Kind selbst ab oder auch davon, welche anderen Bezugspersonen es noch hat. Und wie damit umgegangen wird. Aber eine Prägung hinterlässt so eine Situation auf jeden Fall. Wenn ein Kind so aufwächst, hat es wenig Entwicklungsraum, weil die Gewalt, mit ihren Dynamiken viel Raum einnehmen. Manchmal haben betroffene Kinder zum Beispiel eine verzögerte Sprachentwicklung. Wir beobachten im Frauenhaus, dass Kinder – auch schon die Kleinen von zwei, drei Jahren – offener werden, zu sprechen beginnen, wenn sie länger in diesem sicheren Umfeld leben. Die sind froh, aus der Gewaltsituation zuhause herausgekommen zu sein. Es gibt aber auch andere, die zurück möchten. Und dabei spielt der Bauernhof oft eine wichtige Rolle …

Wie meinen Sie das?
Ich traue mich zu sagen, dass Bauernhöfe eine hohe Dunkelziffer haben, was häusliche Gewalt anlangt. Weil dort eine spezielle Situation herrscht. Die Frau am Hof hat alle Säulen ihrer Identität am Hof: ihre Arbeit, ihre Familie, ihr soziales Netzwerk. Ein Bauernhof ist ein Betrieb, alles spielt sich hier ab. Oft wird er im Nebenerwerb bewirtschaftet, der Mann geht auswärts arbeiten, sie bleibt bei den Kindern und arbeitet am Hof mit. Besitzer ist oft der Mann, die Frau ist versichert als mitarbeitendes Familienmitglied. Solange dieses Miteinander auf gegenseitigem Respekt basiert, ist alles in bester Ordnung: Wenn sie gerne Bäuerin ist und sich um Haus, Tiere und Kinder kümmert, ist das wunderbar. Wir reden nun aber von dem Prozentsatz, bei dem dieses Respektverhältnis nicht da ist, sondern wo die Gewalt von Seiten des Mannes gegen Frau und Kinder ausgeübt wird. Wo die Frau abhängig ist vom Mann, auch finanziell. Und oft liebt sie ihre Arbeit als Bäuerin und müsste bei einer Trennung einen Teil ihrer Identität aufgeben. Eine Bäuerin kann nämlich nicht einfach Arbeit wechseln, das macht es für sie schwieriger wegzugehen. 
Auch die Kinder würde sie aus diesem besonderen Umfeld herausreißen: Denn auf einem Bauernhof wachsen Kinder einfach anders auf als in einer Wohnung. Da ist viel Platz, es gibt Tiere und viele Möglichkeiten zum Spielen und sich draußen aufzuhalten. Deshalb hat die Frau oft auch das Gefühl, dass sie den Kindern diesen besonderen Ort des Aufwachsens wegnimmt, wenn sie ihren Mann und den Vater der Kinder verlässt. Das hören wir nämlich oft von den Frauen: „Ich will ihnen nicht den Papa nehmen.“ Dabei ist es doch der Vater, der sich falsch verhält und sich den Kindern „nimmt“. Abgesehen davon steht dem Mann ja das Recht zu, die Kinder zu sehen … 

Angenommen, jemand wird Zeuge von Gewalt oder wird von der Betroffenen zu Rate gezogen. Oder man vermutet, dass eine Frau häuslicher Gewalt ausgesetzt ist. Was kann man dann tun? Wie kann man sie unterstützen?
Ich glaube ja, dass die sogenannte „omertà“ in diesem Bereich sehr verbreitet ist, kaum jemand will sich einmischen, manche haben auch Angst davor. Oder man ist sich nicht sicher und sagt deshalb nichts. Oft wird aus diesem Grund einfach weggeschaut, auch weil man nicht weiß, wie man damit umgehen, wie man sich verhalten soll. Wir empfehlen auf jeden Fall, Kontakt mit der Frau aufzunehmen, indem man einfach mal die Sorge äußert oder fragt, wie es ihr geht. Und dann – ganz wichtig – darf man sich nicht erwarten, dass sich die Frau sofort dankbar öffnet oder sich etwas ändert. Aber man kann ihr zu verstehen geben, dass man da ist. Vielleicht bewegt sich dann etwas.

Was mich auch interessieren würde: Wieso werden Männer überhaupt gewalttätig? Was geht da ab?
Es geht um Machtausübung. Da geht es nicht um Liebe, sondern um ein Besitzdenken: Man macht jemanden klein, übt Gewalt aus, um das Machtgefälle wiederherzustellen. Die Gewaltspirale beginnt eigentlich immer sehr ähnlich: Die Frauen sagen, anfangs ging alles gut. Irgendwann baut sich eine Spannung auf, die Frauen verstehen nicht, woher die kommt. Sie versuchen dann oft, die Situation wieder ins Lot zu bringen, was aber nicht machbar ist von Seiten der Frau. 
Und dann passiert irgendetwas – oft ist es eine Kleinigkeit – und der Funke zündet: Dann gibt es einen Gewaltausbruch und die Frau versteht danach nicht, wie das hat passieren können. Nach dieser Entladung ist die Spannung erst mal weg, der Mann fühlt sich wieder Herr der Situation, das Machtgefälle ist wiederhergestellt. Viele Männer entschuldigen sich dann und es wird wieder ruhig, man spricht dann auch von Honeymoon-Phase. Aber die Spannung baut sich dann wieder auf, bis sie sich wieder entlädt. So geht es immer weiter, die Abstände der Gewaltakte – die Honeymoon-Phasen – werden immer kürzer …

Sind Sie manchmal frustriert, weil Ihre Arbeit doch wie ein Kampf gegen Windmühlen scheint? Was wäre Ihr Wunsch?
Ich arbeite prozessbegleitend, höre individuelle Geschichten, die oft positiv enden: Viele Frauen gehen ihren Weg, steigen aus, schaffen es, mutige Schritte zu machen. Das gibt meiner/unserer Arbeit Sinn. Aber ja, wir sind oft frustriert und sehen zwar, dass sich einiges verändert, aber sehr langsam. Und es ist noch lange nicht genug. Durch Covid-19 hat sich da zwar viel getan, das Thema ist auch dadurch in der Gesellschaft angekommen. Man hat in dieser Zeit des Lockdowns und danach nämlich viel darüber geredet. Auch die Medien haben dazu beigetragen: Heute wird viel und ausführlich über Femizide berichtet. Und der sogenannte „Codice Rosso“ hat ebenfalls viel bewirkt: Seitdem haben die Ordnungskräfte eine klare Gesetzesvorgabe, wie sie in solchen Situationen vorgehen können bzw. müssen. Dank Schulungen gibt es mittlerweile eine gute Zusammenarbeit mit den Ordnungskräften und dem Sanitätspersonal. Wir und die betroffenen Frauen werden mittlerweile wahr- und ernst genommen.
Was ich mir noch wünsche? Dass Männer sich auf die Seite der betroffenen Frauen schlagen. Ich meine damit konkret: Wenn Männer in der Bar zum Beispiel den Platz wechseln, wenn ein Mann hereinkommt, von dem man weiß, dass er daheim handgreiflich ist. Oder wenn ihm sonst einfach klar zu verstehen gegeben wird, dass das gar nicht geht, dass sein Verhalten inakzeptabel ist … 

Katrin Gottardi: „Für eine Bäuerin ist es schwieriger, vom Hof wegzugehen.“

Wo Frauen Hilfe ­bekommen

Italienweite Notrufnummer bei Gewalt und Stalking: 1522
Internetseite: www.1522.eu

Frauen in Gewaltsituationen können sich in Südtirol an fünf Frauenhausdienste wenden. Im folgenden die Kontaktdaten:

Bozen
Beratungsstelle für Frauen in -Gewalt-situationen – Frauenhaus
Verein „GEA“
Tel. 0471 513399
Grüne Nummer 800 276433
www.casadelledonnebz.it;
E-Mail: frau.gea@virgilio.it

Geschützte Wohnungen –
Verein „Haus der geschützten -Wohnungen des KFS“
Tel. 0471 970350
Grüne Nummer 800 892828
www.hdgw.it
E-Mail: info@hdgw.it

Brixen
Beratungsstelle für Frauen in -Gewaltsituationen – Frauenhaus der Bezirksgemeinschaft Eisacktal
Tel. 0472 820587 
Grüne Nummer 800 601330
www.bzgeisacktal.it
E-Mail: frauen.bzgeisacktal@gvcc.net

Bruneck
Beratungsstelle für Frauen in -Gewaltsituationen –
Geschützte -Wohnungen der -Bezirksgemeinschaft Pustertal
Tel. 0474 410252
Grüne Nummer 800 310303
www.bezirksgemeinschaftpustertal.it
E-Mail: frauenhausdienst@bzgpust.it

Meran
Beratungsstelle für Frauen in -Gewaltsituationen – Frauenhaus
Verein „Donne contro la Violenza – Frauen gegen Gewalt – onlus“
Tel. 0473 222335
Grüne Nummer 800 014008
www.frauengegengewalt.org/de
E-Mail: info@donnecontrolaviolenza.org

Renate Anna Rubner

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