Im Land der flexiblen Harmonie
Vietnam, seine Menschen und seine Landwirtschaft kennen- und spüren lernen: Zwei Wochen lang durfte eine 30 Mann und Frau starke Reisegruppe bei der „Südtiroler Landwirt“-Leserreise diese Erfahrung machen. Mit prägenden Bildern im Kopf blicken wir nun auf dieses Erlebnis zurück.
Als Pendler ist man ja auch in Südtirol einiges gewohnt. Wer aber einmal das tagtägliche Durcheinander in vietnamesischen Großstädten erlebt hat, dem kommt eine Fahrt nach Bozen oder Meran auch an Regentagen geradezu entspannend vor. Auch wenn die Straßen von Hanoi oder Saigon noch so verstopft erscheinen, gibt es doch immer noch eine Lücke, durch die sich eines der Millionen Kleinmotorräder zwängen kann. Warum ich meinen Rückblick auf unsere Leserreise ausgerechnet mit einer Beschreibung des wenig ländlichen Verkehrschaos beginne? Nun, zum einen ist der Verkehr in Vietnam an sich schon eine Touristenattraktion (steht so wortwörtlich in vielen Reiseführern), zum anderen erlebt man gerade mitten im Chaos jene beiden Begriffe, die den Vietnamesen besonders wichtig sind: Flexibilität und Harmonie. Um in diesem Chaos überleben zu können, braucht es von jedem Verkehrsteilnehmer Flexibilität: Wenn der Weg links um ein Hindernis versperrt ist, fährt man eben rechts herum. Zum anderen spürt man selbst in den chaotischsten Situationen eine harmonische Grundstimmung. Auch wenn es in den Städten ein andauerndes Hupkonzert gibt, scheint den Vietnamesen Aggressivität im Straßenverkehr fremd zu sein. Wer hupt, will nicht schimpfen, sondern einfach sagen: „Achtung, hier komme ich.“ Vielleicht lässt es sich so erklären, dass wir in zwei Wochen trotz chaotischer Verkehrsverhältnisse so gut wie keine Unfälle erleben müssen ...
Flexibel-harmonisch – so lässt sich auch unsere Reisegruppe beschreiben. In den zwei Wochen gibt es nicht einmal größere Spannungen, die die harmonische Stimmung trüben würden. Dabei braucht es vor allem bei den Besuchen der Obst- und Gemüsemärkte eine hohes Maß an Flexibilität – schließlich gibt es dort unfassbar viel zu sehen, zu verkosten, zu kaufen und zu fotografieren. Doch unser vietnamesischer Reiseleiter Quang beweist jeden Tag aufs Neue eine Engelsgeduld mit uns Europäern, und so finden schließlich immer alle den Weg zurück zum Bus und ins Hotel – flexibel-harmonisch eben.
Reisfelder so weit das Auge reicht
Wer an Landwirtschaft in einem südostasiatischen Land wie Vietnam denkt, dem fällt als Erstes der Reis ein. Verständlich, denn schließlich ist Reis hier fixer Bestandteil eines jeden Gerichts, und es ist auch jener Teil des Essens, der bei Bedarf ohne Probleme nachgeliefert werden kann. Auch wer, so wie wir, das Land bei zwei Inlandsflügen von oben betrachtet, dem fallen die schier endlosen Reisfelder auf. Wir lernen den Reisanbau zwar nicht direkt kennen, begegnen ihm aber immer wieder, am intensivsten bei einem Besuch in einem Reisforschungsinstitut im Mekong-Delta. Hier geben uns unsere Gastgeber einen Einblick in ihre Arbeitsweise und beschreiben uns die Herausforderungen, vor denen der Reisanbau in Vietnam steht. Das Mekong-Delta im Süden Vietnams ist ein sehr fruchtbares Gebiet und umfasst rund 40.000 Quadratkilometer landwirtschaftliche Nutzfläche. Jedes Jahr verteilt das Institut an die Reisbauern im Land rund 5000 Tonnen hochwertige Reissamen. Der Ertrag liegt bei der ersten Ernte im Winter und Frühling bei acht, neun Tonnen pro Hektar, bei der zweiten Ernte sind es etwas weniger. Mancherorts wird sogar dreimal pro Jahr geerntet.
Zu den größten Herausforderungen für den Reisanbau in Vietnam gehören der Klimawandel sowie die Versalzung der Böden und des Wassers. Zum einen steigen die ohnehin schon sehr hohen Durchschnittstemperaturen ständig an, zum anderen dringt immer öfter salziges Meerwasser weit ins Land hinein. Verantwortlich dafür sind vor allem Länder wie China, die am Oberlauf des Mekong immer mehr Staudämme bauen und somit immer weniger Wasser im Mekong zurücklassen. Für Länder wie Vietnam, die am Unterlauf des Flusses liegen, ein zunehmendes Problem. Bedrohlich für das gesamte Mekong-Delta ist aber auch der drohende Anstieg des Meeresspiegels. Allein ein Anstieg um 75 Zentimeter würde bedeuten, dass ein Drittel der Anbaufläche im Flussdelta im Meer versinkt. Für die unzähligen kleinen Reisbauern ist das eine Existenzfrage. Reisfelder begegnen uns auch in Zentralvietnam, wo wir einen Ausflug mit Fahrrädern aufs Land unternehmen. Die meisten Felder sind zu diesem Zeitpunkt bereits abgeerntet, und so sind hier vorwiegend Wasserbüffel anzutreffen.
Immense Vielfalt an Früchten und Gemüsesorten
Doch Vietnam hat viel mehr zu bieten als Reis. Überrascht sind wir, als wir erfahren, dass Vietnam nicht nur beim Reis (Exportland Nummer zwei nach China), sondern auch beim Kaffee (Exportland Nummer zwei nach Brasilien) zu den weltweit wichtigsten Produzenten gehört. Ganz vorne liegt Vietnam übrigens beim Pfeffer. Vorwiegend für die Menschen im eigenen Land produzieren die vietnamesischen Bäuerinnen und Bauern eine große Zahl von unterschiedlichen Obstsorten. Bananen und Kokosnüsse gehören noch zu denen, die wir auch kennen, wir lernen auf den vielen Märkten aber auch Drachenfrüchte, Jack-Früchte, die auch als „Stinkfrucht“ bekannte Durian und die Litschi-ähnlichen Longan-Früchte kennen. Weil die vietnamesische Küche durchaus auch Wert auf eine gewisse Schärfe legt, begegnen uns auch Chili-Schoten in allen erdenklichen Farben und Formen.
Besonders schätzen lernen wir das vietnamesische Nationalgericht, die Nudelsuppe Pho. Was nach einem simplen Essen klingt, entpuppt sich wegen der zahlreichen Kräuter und Gewürze als wahres Geschmackserlebnis – das es übrigens auch bereits am Frühstücksbuffet in den Hotels gibt.
Landwirtschaft in einem sozialistischen Staat
Immer, wenn wir mit den Kleinbauern direkt in Kontakt kommen, merken wir rasch, dass wir uns nicht in einer Demokratie, sondern in einem sozialistischen Staat befinden. Seit dem Ende des Vietnamkriegs Mitte der 1970er-Jahre herrscht in Vietnam die kommunistische Einheitspartei (was die US-Amerikaner ja unbedingt verhindern wollten) und sie kontrolliert das tägliche Leben. Unser Reiseleiter Quang bezeichnete das Wirtschaftssystem einmal als „staatlich kontrollierte Marktwirtschaft“, was auch immer man sich darunter vorstellen soll. Für die vietnamesischen Kleinbauern bedeutet das, dass sie das Land, das sie bearbeiten, in den seltensten Fällen selbst besitzen, sondern vom Staat zugeteilt bekommen, um mit den Erträgen ihre Familien zu ernähren. Zwar gibt es vereinzelt auch Direktverkauf an Händler und Restaurants in der jeweiligen Umgebung, in den allermeisten Fällen läuft die Vermarktung der Produkte jedoch über Genossenschaften. Dieses Wirtschaftssystem tut der Freundlichkeit und Offenheit der Menschen jedoch keinen Abbruch – im Gegenteil: Jeden Tag erleben wir aufs Neue, mit welcher unbändigen Freude die Vietnamesen von ihrer mühsamen Arbeit erzählen und auch, wie stolz sie auf ihr Land sind. Bemerkenswert ist auch die ehrliche Zufriedenheit, die unsere Gesprächspartner durchwegs zeigen – eine Eigenschaft, von der sich in unseren Breiten so mancher eine dicke Scheibe abschneiden kann und sollte.
Bunte Vielfalt an Traditionen
Neben der Landwirtschaft Vietnams erfahren wir in den zwei Wochen der Leserreise aber auch viel über die Sitten und Gebräuche sowie über die Traditionen des Landes: Wir lernen die Kunst des Wasserpuppentheaters ebenso kennen wie eine Gruppe von Bambus-Akrobaten, wir lernen Wissenswertes über die Perlenzucht und die Schokoladenproduktion ebenso wie über die Herstellung von Reisnudeln, und wir besuchen auch touristische Sehenswürdigkeiten wie die weitläufige Halong-Bucht und die Innenstadt von Hoi An. Gerade diese Mischung aus fachlichen Inhalten und kulturellen Sehenswürdigkeiten macht die Leserreisen des „Südtiroler Landwirt“ aus und wohl auch so beliebt – wie die Tatsache beweist, dass die Reise nach Vietnam innerhalb kürzester Zeit ausgebucht war.
Bei all den wunderbaren Erlebnissen und Eindrücken übersehen wir natürlich auch nicht die Probleme, mit denen ein boomendes Land wie Vietnam zu kämpfen hat. Eins ist der Verkehr, der einen zwar auch zum Schmunzeln und zum Staunen bringt, der aber natürlich vor allem in den Städten auch für eine massive Luftverschmutzung sorgt. Ein weiteres ist die Umwelt- und vor allem die Wasserverschmutzung, die ebenfalls vor allem in den Städten zutage tritt. Ein drittes – noch nicht so offensichtliches – Problem ist wohl der Tourismus: Dass Vietnam ein wunderschönes Land mit vielen Attraktionen ist, hat sich auf der Welt längst herumgesprochen. Es wird sich zeigen, wie die Vietnamesen mit den immer zunehmenden Touristenströmen umgehen und ob es ihnen gelingt, trotz allem ihre bekannten Grundsätze – Flexibilität und Harmonie – zu bewahren. Es bleibt, den Vietnamesen zu wünschen, dass sie einen guten Mittelweg finden zwischen der Freundlichkeit und Zufriedenheit, die ihren Charakter prägen, und der zunehmenden Kommerzialisierung, die auch in einem kommunistisch regierten Land unweigerlich um sich greift.
Zur Leserreise gibt es einen Reiseblog, in dem alle Erlebnisse der Reisegruppe nachzulesen sind und es viele Fotos zum Bestaunen gibt. Online ist der Blog unter https://leserreise-vietnam.tumblr.com.