Der unterschätzte Sinn: das Riechen
Wir riechen zwar mit jedem Atemzug, nehmen Gerüche aber selten bewusst wahr. Trotzdem ist unser Geruchssinn besser, als wir meinen, weiß Johannes Frasnelli. Der Neurowissenschaftler erzählt im Interview, wieso das so ist. Und wieso wir Riechen oft mit Schmecken verwechseln.
Gerüche können Emotionen wecken, Erinnerungen hochkommen lassen und uns vor Gefahren schützen. Der Neurowissenschaftler und Geruchsforscher Johannes Frasnelli erklärt im Interview mit dem „Südtiroler Landwirt“, warum wir viel besser riechen, als wir denken, was die neuesten Erkenntnisse der Geruchsforschung mit unserem Alltagsleben zu tun haben und wie die Medizin versucht, Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson frühzeitig zu erkennen. Johannes Frasnelli (Jahrgang 1974) ist in Algund aufgewachsen, hat in Wien studiert und lebt nun – nach Forschungsaufenthalten in Dresden, Philadelphia und Montreal – in Quebec, Kanada. Überall auf der Welt aber gibt es Orte, die für ihn riechen wie Südtirol.
Südtiroler Landwirt: Herr Frasnelli, Sie sind Neurowissenschaftler und beschäftigen sich mit der Erforschung des Geruchssinns und seiner Wirkung auf das menschliche Gehirn. Sie haben darüber auch ein Buch geschrieben mit dem Titel „Wir riechen besser als wir denken“: Was meinen Sie damit?
Johannes Frasnelli: Den Titel habe ich absichtlich mehrdeutig gewählt. Einerseits möchte ich damit ausdrücken, dass unser Geruchssinn besser funktioniert, als man glaubt. Andererseits gibt uns unser Geruchssinn mehr Informationen, als man bewusst in der Lage ist zu erfassen. Und nicht zuletzt: Unser Körpergeruch überträgt mehr Informationen, als man gemeinhin annimmt.
Der Mensch hat 400 verschiedene Typen von Riechrezeptoren und kann deshalb Milliarden von Gerüchen unterscheiden. Zwei Prozent unserer genetischen Information sind auf das Riechen ausgerichtet. Wieso hat sich das stammesgeschichtlich so entwickelt?
Unser Geruchssinn hat sich evolutionsgeschichtlich eigentlich zurückentwickelt, denn die meisten Säugetiere, die mit uns näher oder weiter verwandt sind, haben deutlich mehr Riechrezeptor-Typen. Wir haben also – im Vergleich zu beispielsweise Ratten oder Hunden mit ihren über 1000 Riechrezeptor-Typen – eher wenige. Aber trotzdem sehr viele, wenn man die Zahl an Riechrezeptor-Typen mit jener an Sehrezeptoren vergleicht, von denen wir nur vier haben. Warum das so ist, kann man nicht eindeutig sagen, aber man kann davon ausgehen, dass der Geruchssinn für uns wichtiger ist, als wir gemeinhin glauben. Nur deshalb hat es die Evolution so bewahrt, dass wir so viele verschiedene Gerüche voneinander unterscheiden können.
Wir riechen zwar mit jedem Atemzug, trotzdem haben wir meistens das Gefühl, es riecht nach nichts …
Ja, mit jedem Atemzug gelangen Duftstoffe in unsere Nase. Bewusst nehmen wir sie aber kaum wahr. Beim Sehen ist es anders: Wenn ich Sie frage, was Sie in den letzten fünf Minuten gesehen haben, können Sie mit geschlossenen Augen relativ leicht ein Bild davon nachzeichnen. Dieselbe Übung gelingt mit dem Riechen wohl kaum. Bewusst werden uns Gerüche erst dann, wenn wir darauf achten oder wenn plötzlich ein großer Konzentrationsunterschied, also eine Duft- oder Geruchswelle, auf uns zukommt. Dann wird einem plötzlich bewusst: Da riecht es nach Kaffee oder nach Rauch usw. Aber dann gewöhnt man sich daran und die Wahrnehmung nimmt wieder ab, obwohl die Duftmoleküle wahrscheinlich immer noch in derselben Menge um uns herumschwirren.
Können alle Menschen gleich gut riechen?
Also, es gibt Menschen, die können überhaupt nichts riechen. Entweder von Geburt an, oder sie haben den Geruchssinn verloren. Und davon gibt es recht viele, nicht erst seit Corona. Denn man kann auch den Geruchssinn verlieren, wenn man sich den Kopf anschlägt, wenn man eine Allergie hat oder eine chronische Nasennebenhöhlenentzündung. Man schätzt, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung weniger gut riechen können, fünf Prozent, also jeder Zwanzigste, können gar nichts riechen. Da gibt es also schon mal einen Unterschied. Vorhin habe ich erklärt, dass es rund 400 verschiedene Riechrezeptor-Typen gibt, aber die sind nicht alle gleich verteilt: Jemand hat vielleicht 405 und jemand anderer 380.
Und das merkt man?
Ob man es merkt, ist schwierig zu vergleichen. Aber es ist wahrscheinlich, dass unsere Umwelt für jeden von uns unterschiedlich riecht. Ihre Geruchswelt ist eine andere als meine – wahrscheinlich. Aufgrund unserer Ausstattung mit Riechrezeptoren nehmen wir unsere Umgebung also unterschiedlich wahr, obwohl die Umwelt dieselbe ist. Dasselbe gilt fürs Sehen: Wenn jemand farbenblind ist, fehlt ihm ein Rezeptor-Typ, deshalb kann er Grün und Rot nicht unterscheiden, seine Umwelt schaut also auch anders aus als meine. Obwohl sie dieselbe ist. Wenn wir nun bei zwei Menschen eine Differenz von 25 Riechrezeptor-Typen haben, dann gehen wir davon aus, dass sie unterschiedlich riechen können. Wie anders, das ist schwierig zu bemessen, weil wir dazu nicht das nötige Vokabular haben. Nehmen wir ein konkretes Beispiel, das Korianderkraut: Wie man es wahrnimmt, hängt von einem einzigen Rezeptortyp ab. Wenn man ihn hat, riecht Koriander unangenehm nach Seife, und wenn nicht, riecht er angenehm. Unsere Umwelt riecht also für jeden von uns unterschiedlich.
Gibt es Unterschiede, z. B. zwischen Mann und Frau, zwischen Baby und Erwachsenem?
Zwischen Männern und Frauen ist es so, dass, wenn man einen Riechtest macht und einen Unterschied im Riechen feststellt, die Frauen im Schnitt besser abschneiden als die Männer. Womit hängt das zusammen? Eine Erklärung ist: Sie haben einen besseren Geruchssinn. Eine andere, dass sie bei den Tests besser abschneiden, weil sie Gerüche besser benennen können. Weil sie sich kulturell mehr um Gerüche kümmern: Sie sind in der Regel zuständig fürs Essen oder für die Hygiene (fürs Putzen, Waschen, für die Körperpflege), vielleicht sind sie auch genetisch geprägt, das weiß man nicht. Zu den Unterschieden zwischen den Lebensaltern: Mit dem Älterwerden verliert man an Geruchssinn, alte Menschen haben also einen schlechteren Geruchssinn – in der Regel. Kleine Kinder hingegen reagieren oft sensibler auf Gerüche, kennen aber noch nicht so viele. Das heißt, wenn ich mit einer Fünfjährigen einen Riechtest mache, ihr Koriander zum Riechen gebe und frage, was das ist, kann sie mir nicht antworten, weil sie das Kraut noch nie gegessen hat.
Die Forschung hat erkannt, dass man über den Verlust des Geruchssinn auch Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer vorhersagen könnte. Worauf basiert diese Erkenntnis und wie weit ist man in diesem Bereich?
Alzheimer und Parkinson sind neurodegenerative Erkrankungen, das heißt, nach und nach gehen die Nervenzellen im Gehirn kaputt, allerdings in unterschiedlichen Bereichen, je nach Krankheit. Bei Alzheimer denkt man als Symptom vor allem an die Vergesslichkeit, bei Parkinson ans Zittern, aber das sind nicht die einzigen. Es gibt auch andere Symptome, die man mit diesen Krankheiten in Verbindung bringt, zum Beispiel eben der Verlust des Geruchssinns. Und der geht den anderen Symptomen um zehn bis 15 Jahre voraus. Wenn also Menschen die Diagnose bekommen, haben sie in der Regel schon viel früher Schwierigkeiten mit dem Geruchssinn gehabt. Das Problem ist, dass man den Geruchssinn auch aus anderen Gründen verlieren kann, das habe ich vorher schon erklärt. Und den Leuten ist der Verlust ihres Geruchssinns meistens nicht bewusst. Ihnen fällt also oft nicht auf, dass sie den Geruchssinn verloren haben. Aber wenn man mit den Patienten redet, kommen oft Aussagen wie: Meine Frau hat früher sehr gut gekocht, aber inzwischen schmeckt alles fad. Ich selbst forsche hauptsächlich daran, ein krankheitsspezifisches Muster der Beeinträchtigung des Geruchssinns zu finden. Denn wenn das gelänge, könnte man es eventuell in der Früherkennung einsetzen. Und man könnte dann theoretisch an Therapien arbeiten, die den Krankheitsverlauf aufhalten oder verlangsamen. Das ist die Überlegung dahinter.
Kann man den Geruchssinn auch trainieren?
Grundsätzlich ja. Indem man ihn oft verwendet. Manchmal funktioniert das sogar bei Menschen, die ihren Geruchssinn verloren haben, aber eben nicht immer. Und Menschen, die einen normalen Geruchssinn haben, können ihn durch Übung verbessern. Wenn sich jemand zum Sommelier ausbilden lässt, trainiert er seinen Geruchssinn – einerseits. Andererseits übt man dabei auch, Gerüche zuzuordnen, korrekt zu identifizieren und zu benennen.
Es heißt ja auch, Schwangere würden besser riechen, zumindest reagieren sie stärker auf Gerüche. Was hat es damit auf sich?
Studien haben gezeigt, dass Schwangere nicht sensibler auf Gerüche werden, sie nehmen also nicht etwa geringere Konzentrationen wahr. Aber was sich bei Schwangeren im Vergleich zu anderen unterscheidet, ist ihre Reaktion auf überschwellige Gerüche, sie reagieren also stärker – zumindest auf gewisse Gerüche. Was physiologisch passiert, wissen wir (noch) nicht, aber evolutionsgeschichtlich ist das sehr sinnvoll, weil die Schwangere sich und das ungeborene Leben schützen muss.
Man unterscheidet orthonasales Riechen, also über die Nase, und retronasales Riechen, also über den Gaumen und die Nasenhöhle. Was bedeutet das konkret, auch in Zusammenhang mit Verkostungen?
Wenn man einfach so einen Kaffee trinkt, nimmt man ihn nur vielleicht orthonasal wahr, aber sicher retronasal. Jemand, der bewusst verkostet aber, riecht natürlich zunächst an dem Produkt, z. B. am Wein oder am Kaffee, um bei dem Beispiel zu bleiben. Das ist orthonasales Riechen. Ansonsten ist vor allem beim Verkosten das retronasale Riechen wichtig und entsprechend ausgeprägt.
Aber man empfindet das retronasale Riechen eher als Schmecken …
Genau. Tatsächlich aber nimmt der eigentliche Geschmacksinn nur süß, sauer, salzig, bitter und umami, also herzhaft, wahr. Um beim Kaffee zu bleiben, nehme ich ihn über den Geschmackssinn als bitter und vielleicht ein bisschen süß wahr, die Aromen entfalten sich aber erst, wenn sie von hinten über die Nasenhöhle aufsteigen und über die Riechrezeptoren wahrgenommen werden. Wenn man die Nase aus irgendeinem Grund zu hat, meint man deshalb, nichts mehr zu schmecken. Dabei schmeckt man ganz normal, es sind die Aromen, die man kaum noch wahrnimmt, das Essen „schmeckt“ fad. Also das, was wir als Feinheiten im „Geschmack“ bezeichnen, ist in Wirklichkeit das retronasale Riechen.
Im Gegensatz zu den anderen Sinnen wird das Riechen in Bereichen des Gehirns verarbeitet, in denen noch andere Informationen verarbeitet werden: Was bedeutet das?
Stimmt, die Hirnregionen, die das Riechen verarbeiten, haben auch noch andere Aufgaben. Das ist eine Besonderheit, bei den anderen Sinnen ist das nicht so, da verarbeiten die zuständigen Gehirnregionen nur die eine Sinneswahrnehmung, z. B. das Sehen, und sonst nichts. Beim Riechen aber sind die zuständigen Hirnbereiche auch verantwortlich fürs Gedächtnis, für Gefühle, fürs Erinnern und für Belohnung. Das bedeutet, dass, wenn ich etwas rieche, diese Zentren des Gehirns aktiviert werden.
Deshalb können Gerüche unter Umständen Erinnerungen auslösen. Wenn also in unserem Gedächtnis eine Erinnerung, eine Emotion abgespeichert ist, kann ein bestimmter Geruch diese Erinnerung, dieses Gefühl wieder auslösen. Angenommen, Sie essen eine Gerstensuppe, die schmeckt wie bei der Oma. Dann sieht man sich unversehens wieder bei der Oma in der Stube sitzen und Gerstensuppe essen. Und man sieht vielleicht sogar die Oma vor sich, obwohl die vielleicht schon lange gestorben ist. Weil mit diesem Gerstensuppe-Geruch eben bestimmte Emotionen, Erinnerungen verbunden sind. Und das ist wieder für jeden Einzelnen individuell natürlich. Und die Erinnerungen, die ausgelöst werden, sind ganz oft solche an die frühe Kindheit oder Jugend.
Noch eine persönliche Frage: Wenn man wie Sie am Geruchssinn forscht, riecht man da anders, bewusster vielleicht?
Ich muss zugeben, ich habe keine besonders sensible Nase, bin also eher der Theoretiker. Ich interessiere mich für Gerüche, das auf jeden Fall. Deshalb rieche ich auch noch an Dingen, die andere sofort angeekelt von sich schieben, nur um zu ergründen, was dieser Geruch bei mir auslöst. Das ist, denke ich, der Unterschied zwischen mir und anderen „normal“ riechenden Menschen.
Sie sind in Algund aufgewachsen, Ihre ersten Riecherfahrungen haben sie also in Südtirol gemacht. Wie riecht für Sie Südtirol? Oder besser: Welche Gerüche verbinden Sie mit Südtirol?
Es gibt sehr viele Gerüche, die ich mit Südtirol verbinde: Das fängt an mit den Weihnachtsgerüchen, angezündete Kerzen z. B. oder Christstollen. Oder zu Fasching der Geruch der abgefeuerten Kracher oder von Faschingskrapfen. Und die Apfelblüte, auch das ist ein Geruch, der für mich Südtirol ist. Im Sommer die Bergluft und so weiter. Und oft bin ich irgendwo, zum Beispiel in einem Wald in Kanada, rieche etwas und plötzlich überkommt mich eine Erinnerung an meine Kindheit und Jugend hier.